Rede von Dr. Thomas Köster anlässlich der Arbeitnehmer-Tagung in der Handwerkskammer Münster, 14. Oktober 2014Duale Berufsausbildung und Soziale Marktwirtschaft - eine Schicksalsgemeinschaft?
Lieber Herr Wieching, lieber Hans Rath, lieber Herr Hund, lieber Hermann Eiling, meine Damen und Herren!
Hans Rath hat über die Bedeutung des Ehrenamtes gesprochen. Damit bin ich direkt auch bei meinem Thema:
Ohne das ehrenamtliche Engagement tausender von Prüfungsausschussmitgliedern wäre das duale System der Beruflichen Bildung nicht möglich. Ohne Ehrenämtler in den Gremien der Kammern, der Gewerkschaften, der Kolping-Familien, der Verbände könnte die Soziale Marktwirtschaft nicht mit Leben erfüllt werden. Sie, die sich anschicken, Vollversammlungsmitglieder einer der größten Kammern der Wirtschaft in Deutschland zu werden oder Vollversammlungsmitglieder zu bleiben, sind damit wichtigen Stützen unserer sozialmarktwirtschaftlichen Ordnung und Sie können stolz hierauf sein! Aber weder unsere duale Berufsausbildung noch die Soziale Marktwirtschaft sind einfach vom Himmel gefallen; sie mussten in einem mühsamen historischen Prozess erkämpft werden. Vielleicht kann ich einige Etappen dieses Prozesses gemeinsam mit Ihnen Revue passieren lassen.
Dass für uns im Handwerk berufliche Bildung existentiell ist, bedarf keiner besonderen Hervorhebung. „Handwerk ist Qualifikation oder es ist kein Handwerk“ – Diese Aussage bringt die Identität des Handwerks auf den Punkt. Wir wollen eine Sache um ihrer selbst willen gut machen. Das ist es! Nicht ganz so selbstverständlich war für uns früher das Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft. Wir haben Soziale Marktwirtschaft erst gelernt, als dem Handwerk im Zuge der Wachstumsperiode nach der Währungsreform 1948 die Geldstücke schon in der Tasche klimperten. Das Handwerk fasste damals Zutrauen zu Ludwig Erhard und über ihn auch zur Sozialen Marktwirtschaft. Erst unter den ZDH-Präsidenten Richard Uhlemeyer, Joseph Wild und Paul Schnitker (alle drei mit Ludwig Erhard eng verbunden) wurde dann die Soziale Marktwirtschaft zu der Wirtschafts- und Gesellschaftsverordnung auch des Handwerks.
Das Handwerk profitiert vom Wettbewerbskonzept der Sozialen Marktwirtschaft. Wettbewerb bestand hiernach nicht in einem Wettbewerb der Machtpositionen von Kartellen und Monopolen (Kartellämter), sondern im freien Leistungswettbewerb möglichst vieler mittelständischer Betriebe von Handwerk, Handel und Gewerbe. Leistungswettbewerb war auch vereinbar mit Handwerksordnung und Großem Befähigungsnachweis, für die sich Ludwig Erhard einsetzte und die 1953 Gesetz wurden – ein historischer Erfolg für das Handwerk.
Die Soziale Marktwirtschaft ist eine Ordnung, die die Freiheit mit dem Prinzip des sozialen Ausgleichs verbindet.
Sie ist sozial, weil sie produktiv ist und den Verbrauchern eine Güterfülle zur Verfügung stellt, wie es planwirtschaftlichen Systemen unmöglich ist. Die Soziale Marktwirtschaft ist darüber hinaus sozial, weil sie durch ihre Produktivität die erforderlichen Ressourcen für den sozialen Ausgleich und die Bewahrung der Schöpfung auch für künftige Generationen bereithält. Die Soziale Marktwirtschaft ist auch deshalb sozial, weil sie Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten schafft. „Wohlstand für alle“ – das war – Sie erinnern sich – der Slogan von Ludwig Erhard.
Das hieß zum einen
Konsummöglichkeiten in einem Ausmaß, die früher nur für eine schmale Oberschicht realisierbar waren
Das hieß zum anderen
Die Chance auf Sozialen Aufstieg für alle, die sich entsprechend anstrengten; Ergebnis war die Überwindung der Klassengesellschaft und das Erreichen eines gesellschaftlichen Zustandes, den der Soziologe Helmut Schulsky als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ bezeichnet hat. Die Chance auf Sozialen Aufstieg realisierte sich für große Teile unseres Volkes nur über unser duales System der beruflichen Bildung. Dessen Herzstück aber war und ist die Bildungsanstrengung des Handwerks – konkretisiert im Dreiklang von Lehrling, Geselle und Meister! Wie häufig ist das handwerkliche Qualifizierungssystem in der Vergangenheit bedroht gewesen.
Geselle ist, wer was kann
Meister ist, wer was ersann
Lehrling ist ein jedermann
Das war die Philosophie der handwerklichen Bildung für ein halbes Jahrtausend – zwischen dem hohen Mittelalter von 1250 und der französischen Revolution von 1789. Eine neue Habilitationsschrift einer Kölner Historikerin hat jetzt auf breiter empirischer Grundlage nachgewiesen, dass die historischen Zünfte über Jahrhunderte kein Instrument des Protektionismus und der Abschließung gewesen sind. Sie waren nicht Wachstumsbremse, sondern Wachstums-Motor und Katalysator der Freiheit durch Sturz und Patrizier-Herrschaft in vielen Städten.
Damals war die Blütezeit der Meisterlehre des Handwerks.
Damals gelang es, das Berufsethos des ehrbaren Handwerks herauszubilden. Erst der fürstliche Absolutismus ließ die Entwicklung abbrechen, da die Fürsten vor und nach dem 30jährigen Krieg die Zünfte zum Instrument der gewerkepolizeilichen Lenkung umfunktionierten. Diese Missstände waren dann der Anlass, dass die gemeinsame Gewerbeverfassung großer Teile Europas mit den Zünften als Herzstück – über 500 Jahre selbstverständliches Strukturmerkmal – durch den Feuersturm der französischen Revolution hinweg gefegt wurde:
- Eine beispiellose materielle und moralische Verelendung des Handwerks war die Folge
- Weg mit der gegenseitigen Stützung innerhalb der Berufsgemeinschaft gerade auch für Gesellen und Lehrlinge
- Weg mit der Meisterlehre
- Unter dem Zeichen der Freiheit wurden Strukturen beseitigt, die über Jahrhunderte freiheitssichernd gewirkt hatten
- Das war die Situation, die Adolf Kolping antrat und die er zum Ausgangspunkt seines gewaltigen Werkens nahm.
- Wenn in der Folgezeit bis auf den heutigen Tag die Strukturen des Handwerks in Deutschland, Österreich, Luxemburg, der Schweiz und Südtirol stärker überlebten und nicht wie z.B. in England gänzlich verschwanden, so ist dies ganz wesentlich dem Eingreifen Adolf Kolpings in den entscheidenden Jahrzehnten nach 1850 zu verdanken. (nicht nur Gesellvater, sondern Vater des Handwerks!)
Bis auf den heutigen Tag stehen die Fronten ziemlich unversöhnlich gegeneinander:
- Ausbildung im Betrieb in engem Konnex mit der Auftragserledigung für Kunden in einem anerkannten Beruf. Hier ist der Staat Regelsetzer und Schiedsrichter in Verbindung mit den Kammern der Wirtschaft.
- Da gibt es zum anderen das Südeuropäische Berufsbildungs-modell: berufliche Ausbildung in Schulen / Folge: Praxisferne, veraltete Inhalte / schlechte Vermittlungschancen nach Beendigung der Ausbildung / hohe Jugendarbeitslosigkeit (In 20 von 28 EU-Mitgliedsstaaten liegt Jugendarbeitslosigkeit bei über 25 %)
- Da gibt es einmal das angelsächsische Berufsbildungsmodell - training on the job – Vermittlung der für einen Job erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten am Arbeitsplatz / Qualifikations-Collagen anstelle der Ausbildung in voller Berufsfeldbreite /
Richard Sennett: Du brauchst in Ausbildung nicht zu investieren, sondern Du kaufst Dir fehlende Qualifikationen irgendwo auf der Welt ein – Sennett: das ist der falsche Weg! (Abhängigkeit) - Da gibt es drittens das duale System der beruflichen Bildung in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Luxemburg.
- Zusätzlich Unterrichtung an zumeist 2 Tagen in der Woche in Berufskollegs. Hier und nur hier ist der Staat Mitspieler.
Das duale System hat in seiner betrieblichen Komponente den unschlagbaren Vorteil, dass Wettbewerb und Marktnähe auf Ausbildungsprozesse durchschlagen. Das mindert die Schwelle beim Übergang von der Ausbildung in Beschäftigung und führt zu niedriger Jugendarbeitslosigkeit. Um dieses System beneidet uns die Welt! Delegationen pilgern nach Deutschland! Wenig ist so schlimm für ein Volk wie Jugendarbeitslosigkeit! Was liegt da näher, als dieses System auch in anderen Ländern einzuführen! Wenn das so einfach wäre!
Unser System setzt voraus, dass der Unternehmer es als sein Interesse erkennt, in die Qualifikation von Mitarbeitern zu investieren. Viele Patrone in südeuropäischen Ländern lehnen dies ab, weil qualifizierte Mitarbeiter aufmüpfig sein könnten (Portugal).
Zum anderen setzt unser System voraus, dass der Unternehmer es ertragen kann, dass der von ihm Ausgebildete nach der Prüfung zur Konkurrenz wechselt. Wenn ausländische Gesprächspartner dies klären, erkaltet zumeist ihre Begeisterung für unser System. Sie übersehen dabei, dass Ausgebildete auch umgekehrt von der Konkurrenz zu uns wechseln können. Hier gibt es eine Umwegrentabilität, die erst einmal begriffen sein will. Für viele Handwerksmeister und Handwerksgesellen in Deutschland gehört Ausbilden zum kulturellen Code von Handwerk und Mittelstand
Das duale System der beruflichen Bildung ist kongenial zum System der Sozialen Marktwirtschaft, da es in ähnlicher Weise wirtschaftliche Effizienz mit sozialem Ausgleich verbindet. Entscheidend ist, dass wir innerhalb unseres dualen Systems am Berufskonzept festhalten. Da sind wir auch einen tollen Reformweg gegangen. In den 80er und 90er Jahren dauerte es 10, 15 oder gar 20 Jahre bis eine neue Ausbildungsordnung erarbeitet war. Heute haben wir aufgrund eines beispielhaften Zusammenspiels der Sozialpartner mit dem Bundesinstitut für Berufliche Bildung hochmoderne Ausbildungsordnungen für ein sehr breites Interesse- und Begabungsspektrum junger Menschen. Erneuerungsrate der Ausbildungsordnungen weiterhin hohes Tempo!
Wer stehen bleibt, der fällt zurück.
Aber an den entscheidenden Konstanten, müssen wir festhalten. Wie heißt es bei Paulus: Prüfet alles und behaltet das Gute! Dazu gehört das Festhalten am Berufskonzept:
- Beruf trägt am stärksten zur Innenstabilisierung der Person bei (S. 246) Berufliche Sicherheit, Leistung und Zufriedenheit im Beruf sind wesentliche Grundlagen der seelischen Gesundheit des modernen Menschen (S. 247)
- Beruf und Arbeitsstätte = Raum der wesentlichen Sozialkontakte des modernen Menschen (S. 244)
- Soziale Stellung und soziales Ansehen abgeleitet von Stellung im Beruf
- Berufliches Können und berufliche Leistung = entscheidende Produktionsmittel, denen gegenüber Kapazität und Rohstoffe verhältnismäßig belanglos, d.h. leichtersetzbar sind (s. 241)
- Beruf zwar nur noch Teil des Lebens (S. 239)
- Beruf immer noch wichtigster Faktor für die soziale Bestimmung des menschlichen Lebens (S. 240)
- Berufskönnen produktiver Art ist fast die einzige persönliche Sicherheit, die der Mensch in den Krisen der modernen Gesellschaft besitzt. (Seite 241)
- Berufsausbildung, Berufsqualifizierung = wird zum legitimen und fast einzigen Weg des sozialen Aufstiegs (Schelsky, Beruf / 1960)
- Beruf = Raum der Primär-Erfahrung (S. 245) – hier kann er urteilen auf Grund eigener Erfahrungen
- So ist der Beruf heute zwar nur eine Lebensachse neben anderen, aber für die meisten Menschen ist er (zusammen mit der Familie) die lebensnotwendigste.
Das alles sind gute Gründe für unser Festhalten am Berufskonzept im Rahmen unseres dualen Systems der beruflichen Bildung. Natürlich haben wir auch Probleme (zum Beispiel):
- Wie junge Menschen mit Abitur für unsere technischen Ausbildungsberufe begeistern?
- Wie bekommen wir im Bereich der Versorgungs-, Elektro-, Metall- und Kraftfahrzeugtechnik ausgebildete Berufsschullehrer?
- Wie senken wir die zu hohen Abbruchquoten bei Lehrlingen und die zu hohen Durchfallquoten in der Gesellenprüfung
Dies sind Baustellen, an denen wir heftig arbeiten müssen. Aber andere Länder im Süden Europas würden gerne unsere Probleme haben. Deshalb ist meiner festen Überzeugung nach das gesamte Handwerk aufgerufen, Beiträge zur Überwindung der Ausbildungs- und Berufsnot der Jugend in Südeuropa zu leisten. Vielleicht könnte das Konzept der seinerzeitigen Sonderausbildungsstätten ein Modell sein (Österreichisches Modell):
- Im 1. Jahr Ausbildung in einer Überbetrieblichen Lehrwerkstätte bei nur 70% der Ausbildungsvergütung.
- Dann Pflicht zum Überwechseln in einen Betrieblichen Ausbildungsplatz, wenn er angeboten werden kann, mit 100% Ausbildungsvergütung. Öffentliche (sich im Zeitablauf verringernde) Zuschüsse an Ausbildungsbetriebe nach dem Vorbild der früheren Riemer-Programme und dadurch allmähliche Einrichtung einer Ausbildungskultur des mittelständischen Wirtschaftssektors dort, der ohne öffentliche Subventionen auskommen kann.
Das könnte ein Weg sein. Man muss ihn nur beschreiten. Und nicht denjenigen die zukunftsfähige Berufsausbildung betreiben, auch noch Knüppel zwischen die Beine werfen. Genau das tut die EU, die an die deutsche Bundesregierung im Rahmen der europäischen Wirtschaftsregierung und des sogenannten europäischen Semesters einen blauen Brief nach dem anderen schreibt, in denen Deutschland aufgefordert wird, seine Abiturienten- und Hochschulabsolventen-Quote auf über 40 Prozent zu steigern und gleichzeitig das deutsche Meistersystem abzuschaffen. Wer das deutsche Meistersystem beseitigt, ruiniert das duale System der Beruflichen Bildung. Um auszubilden, benötigen wir Ausbilder! Ohne den Ausbildungsbeitrag der Meister und Gesellen des Handwerks können wir das duale System der Beruflichen Bildung in die Tonne kloppen.
Welche Torheit: Weltweit wird das duale System gelobt und gleichzeitig wird versucht, seine Grundlage zu zerstören.
Das wir das nicht zulassen dürfen, darin sind wir uns sicher alle einig. Der europäische Zentralisierungsfuror muss gestoppt werden, das Subsidiaritätsprinzip auf europäischer Ebene muss gestärkt und ein Wettbewerb unterschiedlicher Systeme auch der beruflichen Qualifizierung muss ermöglicht werden. Einem solchen Wettbewerb können wir uns mit sehr viel Selbstbewusstsein stellen.
Soziale Marktwirtschaft und duales System der beruflichen Bildung sind aufeinander angewiesen. Ohne duale Bildung kann die Soziale Marktwirtschaft ihr Versprechen, Chancen auf sozialen Anstieg zu eröffnen, für breite Bevölkerungskreise nicht einlösen. Ohne Soziale Marktwirtschaft fehlt dem dualen System der beruflichen Bildung die erforderliche Ökonomische Grundlage.
Franz Wieching hat das vorausgeahnt und hat das Fragezeichen zur Themenformulierung in seinem Begleitschreiben zur Einladung direkt weggelassen!
Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit!